C/sells (SINTEG)
Die Energiewende führt zu einem steigenden Zubau erneuerbarer Energieerzeugungsanlagen (EZA) im Verteilungsnetz. Ebenso ist mit einem verstärkten Zuwachs der Elektromobilität zu rechnen, der zu einer weiteren Ausreizung der zulässigen Spannungsbereiche und Leitungsauslastungen beitragen kann. Um die Aufnahmefähigkeit des Verteilungsnetzes zu erhöhen, wurden in der Vergangenheit verschiedene Lösungen entwickelt und etabliert. Ein zusätzlicher Baustein zur Behebung von Netzengpässen und Spannungsproblemen sind zeitliche Verlagerungen von Einspeisungen und Verbrauchslasten in der Mittelspannungsebene (MS-Ebene). Diese sogenannten Flexibilitätsmaßnahmen sind derzeit noch nicht Stand der Technik. Um einen hohen Nutzen stiften zu können, indem sie zu einer effizienten Einsparung an Asset beitragen, müssen sie in der Netzplanung abbildbar gemacht werden. Dazu sind einerseits geeignete technische und zuverlässigkeitstheoretische Anforderungen an die Flexibilitätsmaßnahmen herauszuarbeiten, um eine möglichst hohe Gesamteffizienz bei Netz- und Anlagenbetreibern zu erzielen und andererseits ein Verfahren zu finden, mit dem Manipulationsmöglichkeiten (INC-DEC-Gaming) ausgeschlossen bzw. geringgehalten werden können. Unter dem sogenannten INC-DEC-Gaming ist zu verstehen, dass Anlagenbetreiber durch ihre Fahrweise Netzengpässe hervorrufen bzw. verstärken, um anschließend für die Behebung des Engpasses vergütet und letztlich sogar mit wirtschaftlichen Vorteilen für das netzkritische Vorgehen belohnt zu werden.
Ausgewählte Projektergebnisse
- Die untersuchten MS-Netze in städtischen Gebieten können eine hohe PV-Leistung und eine hohe Ladeleistung für E-Mobilität integrieren. Die untersuchten, ländlichen Netze stoßen dagegen bereits bei moderatem PV-Ausbau und bei einem Zubau von E-Mobilität ohne intelligente Steuerung der Ladevorgänge in den nächsten Jahren an ihre Grenzen (v. a. Spannungsbandverletzungen).
- Charakterisierung der Flexibilitätsanforderungen und Aufzeigen eines netzseitigen Lösungsraumes sowie eine erste monetäre Bewertung.
- Lösungsansätze für die Reduzierung von Manipulationsrisiken (INC-DEC-Gaming).
- Feldversuch bei den Kreiswerken Cham: Erprobung der technischen Umsetzbarkeit von Flexibilitätsmaßnahmen in der Trinkwasserversorgung.
- Erfahrungsbericht zu Smart Metern: Bewertung von auftretenden Hindernissen in der Praxis und Erarbeitung von Lösungsvorschlägen.
Ausführliche Projektbeschreibung
Im Zuge des SINTEG-Projektes C/sells wurden an der OTH Regensburg mehrere MS-Netze in der Demonstrationszelle „Cham und Umgebung“ modelliert, um die aktuellen Spannungsverhältnisse und Leitungsauslastungen nachbilden zu können. Zudem wurden, angelehnt an den Netzentwicklungsplan, Szenarien für den zukünftigen PV-Zubau und die potenzielle Entwicklung der Elektromobilität entworfen. Abbildung 1 zeigt ein städtisches Netzgebiet der 17.000-Einwohner-Gemeinde Cham mit einer installierten Erzeugungsleistung von ca. 29 MW (davon 22,4 MW Photovoltaik (PV) und 5,1 MW Biogas). Die Jahreshöchstlast beträgt 27,6 MW, die Jahreshöchstrückspeisung 3,1 MW. Abgeleitet aus dem Netzentwicklungsplan ist mit einem PV-Zubau bis 2030 von 6,5 MW zu rechnen. Um ein Extremszenario abzubilden, wurde mit 150 % der prognostizierten Leistung (9,75 MW) simuliert, die abhängig von potenziellen Dach- und Freiflächen knotenscharf im Netz verteilt wurde. Bei der Simulation des Netzes zeigt sich besonders ein kritischer Strang im Versorgungsgebiet des Umspannwerkes „Ost“, dessen Knotenspannungen an den Ortsnetzstationen (ONS) bereits eine erste vom Netzbetreiber festgelegte Warnschwelle von 1,04 p. u. überschritten haben. Verursacht wird dies durch einige größere Lagerhallen, in denen nur geringe Verbrauchslasten angeschlossen sind, die aber ein großes Dachflächenpotenzial für PV-Anlagen bieten.
Auf Basis der Ergebnisse lässt sich eine Netzanalyse hinsichtlich Spannungs- und Stromgrenzwertüberschreitungen sowie zu deren potenziellen Auftrittszeitpunkten und Auftrittsdauern durchführen. Parallel wurde in der Netzberechnungssoftware PowerFactory anhand von Sensitivitätsanalysen untersucht, welche Wirksamkeit Flexibilitätseinsätze an den verschiedenen Netzknoten auf den Engpass haben. Dadurch kann bestimmt werden, wie effektiv die verfügbaren, in der Regel örtlich gebundenen Flexibilitätsanbieter eingesetzt werden können bzw. wie hoch die Leistungsabweichung einer einzelnen Anlage im Vergleich zu ihrem regulären Fahrplan zur (vollständigen) Behebung eines Engpasses sein müsste.
Die Analyse der untersuchten Netzgebiete zeigt neben der aufgrund der jeweiligen Netztopologie zu erwartenden Unterschiede in der Höhe des Leistungsbedarfs auch ein sehr individuelles Verhalten hinsichtlich der zeitlichen Verteilung der Grenzwertverletzungen. Zur Beschreibung der netzseitigen Flexibilitätsanforderungen wird deshalb eine auf alle Netzgebiete übertragbare Charakterisierung eingeführt. Durch die Charakterisierung lässt sich z.B. analysieren, wie hoch die eingesetzte Flexibilitätsenergie zur vollständigen Behebung der Spannungsgrenzwertverletzung sein muss. Eine weitere Möglichkeit ist, nur einen Teil des Problems über einen Flexibilitätseinsatz zu beheben und stattdessen auf eine Kombination mit Einspeisespitzenkappung zu setzen. Dieses Vorgehen ist speziell dann sinnvoll, wenn anlagenseitige Flexibilitätspotenziale nicht in ausreichender Größe vorliegen oder nicht in voller Höhe wirtschaftlich einsetzbar sind.
Abhängig von der örtlichen und zeitlichen Verfügbarkeit lässt sich ein netzseitiger Lösungsraum der Flexibilitätsanforderungen und eine erste monetäre Bewertung aufzeigen, siehe Abbildung 1. Das dargestellte Szenario bezieht sich auf einen Flexibilitätseinsatz am kritischen Knoten der Stadtwerke Cham (vgl. Abbildung 1) und setzt eine stufbare Leistungsvorgabe (30/60/100 %) und eine innerhalb der Einsatzzeitfenster aufteilbare Einsatzdauer voraus. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Einflussfaktoren werden Kosten für die EZA-Abregelung von 6 ct/kWh angenommen – eine Eigenkosteneinbehaltung bzw. eine Gewinnmarge des Netzbetreibers ist in der Darstellung noch nicht enthalten.
Im Projekt C/sells wurde u. a. ein Nahwärmenetz in Wenzenbach untersucht, das von der Consolinno Energy GmbH betrieben wird und 115 Haushalte in einem Neubaugebiet versorgt. Zur Ermittlung des Flexibilitätspotenzials wurde ein Modell des Nahwärmenetzes mit allen einzuhaltenden Restriktionen (Versorgungssicherheit, Speicherkapazität) erstellt und mithilfe verfügbarer Messwerte evaluiert. Daraus resultiert ein über ein Einsatzzeitfenster von 4 h durchgängiges, gesichertes lasterhöhendes Flexibilitätspotenzial von mindestens 400 kW.
Als weiterer potenzieller Flexibilitätsanbieter wurde ein Trinkwasserversorgungssystem untersucht. In Zusammenarbeit mit den Kreiswerken Cham entstand an der OTH Regensburg ein Modell des Versorgungsgebietes mit allen relevanten Pumpen und Hochbehältern, siehe Abbildung 2. Insgesamt steht eine installierte elektrische Pumpenleistung von 900 kW zur Verfügung, wovon in der Regel aus wirtschaftlichen Gründen nur etwa die Hälfte zeitgleich eingesetzt wird. Die als Netzwasser bezeichneten Abgänge stehen für die jeweils angeschlossenen Gemeinden, Haushalte, Betriebe oder sonstigen Verbraucher. Durch den flexiblen Pumpeneinsatz kann eine zeitliche Verlagerung in die PV-Spitzenzeiten erfolgen, was zu einer Entlastung des Stromnetzes führt.
Aktuell sind die Stromkosten der Kreiswerke Cham, wie bei Gewerbe- und Industriebetrieben üblich, an einen Leistungspreis gekoppelt. Das Ziel ist deshalb, die Leistungsspitze im Jahresverlauf aus wirtschaftlichen Gründen möglichst gering zu halten. In einem Feldversuch sollte daher vordergründig untersucht werden, inwiefern der Einsatz von Flexibilität in der Trinkwasserversorgung technisch umsetzbar ist. Dazu wurde ein Flexibilitätsfahrplan (Leistungsabweichung vom bisherigen Fahrplan der Pumpen) an der OTH Regensburg erstellt und an die Kreiswerke Cham übermittelt. Im Hauptpumpwerk wurde der Flexibilitätsabruf mithilfe einer modifizierten Anlagensteuerungssoftware umgesetzt. Als Fazit des Feldversuchs lässt sich festhalten, dass eine technische Umsetzung zur flexiblen Nutzung der Trinkwasserpumpen ohne größeren Mehraufwand durchführbar ist. Die ermittelten Flexibilitätsanforderungen können vor Ort umgesetzt werden, d. h. die Pumpen überschreiten zu keinem Zeitpunkt die vorgegebenen Leistungswerte und schalten sich am Ende der Einsatzdauer wieder planmäßig aus. Ebenso werden die Pumpen automatisch eingeschaltet, sobald der Mindestfüllstand eines Hochbehälters unterschritten wird. Eine zuverlässige Wasserversorgung ist somit auch im Flexibilitätsbetrieb sichergestellt.
Fazit
Die Kreiswerke Cham als Wasserversorger und Betreiber der Trinkwasserpumpen könnten durch die Bereitstellung von Flexibilität zukünftig zusätzliche Einnahmen erzielen. Wie hoch diese Einnahmen sind, wird davon abhängen, wie effektiv die Flexibilität zur Behebung eines Netzengpasses beiträgt. Grundsätzlich eignen sich die Trinkwasserpumpen aus zwei Gründen besonders für flexible Nutzung: Zum einen werden sie täglich über mehrere Stunden mit einer Leistung von bis zu 450 kW betrieben, zum anderen stehen die vorhandenen Hochbehälter ohne weitere Umbaumaßnahmen als Zwischenspeicher für das Trinkwasser zur Verfügung. Außerdem ist der Wasserverbrauch tendenziell der Photovoltaik-Einspeisung sowohl im Tages- als auch im Jahresverlauf sehr ähnlich – tagsüber mehr als nachts, im Sommer mehr als im Winter.
Für die beteiligten Netzbetreiber Bayernwerk, Stadtwerke Cham und Stadtwerke Waldmünchen bieten sich Lösungsansätze, wie die Anforderungen an Flexibilitätseinsätze netzseitig ermittelt und monetär bewertet werden können. Die Simulationen haben gezeigt, dass die Flexibilitätsmaßnahmen einen nicht unerheblichen Nutzen stiften und zukünftig als zusätzliches Werkzeug in Kombination mit konventionellem Netzausbau und Einspeisemanagement (Abregelung von erneuerbaren Energieerzeugungsanlagen) eingesetzt werden können.
Projektpartner
42 Vollpartner und 15 assoziierte Partner, u. a.