Theorie des Spannungsfalls
Netzphysik
Im Folgenden werden die theoretischen Grundlagen zu den Spannungsverhältnissen und den sich einstellenden Spannungsfällen im Verteilungsnetz vorgestellt und aus deren mathematischer Beschreibung die möglichen Einflussgrößen abgeleitet. Eine gängige Methode Netzgrößen darzustellen ist die Verwendung von komplexen Zeigern, weil die Transformation der Größen aus dem Zeit- in den Frequenzbereich eine einfachere Berechnung und Darstellung des Netzzustandes ermöglicht. Auf diesem Weg soll im Weiteren der Spannungsfall erläutert werden.
Der komplexe Spannungsfall
In der Regel können Leitungen und Transformatoren vereinfacht als eine Reihenschaltung eines ohmschen Widerstandes R und einer Reaktanz jX betrachtet werden. Abbildung 1 zeigt hierzu das Ersatzschaltbild (mit den auf die Länge l normierten Impedanzgrößen R' und X') sowie das Zeigerdiagramm der Spannungen. Ein Stromfluss I über diese beiden Elemente führt zu einer Differenz der Spannung U_A am Leitungsanfang und der Spannung U_E am Ende in Betrag und Phase. Diesen Unterschied beschreibt der komplexe Spannungsfall ΔU = U_A - U_E , der sich aus dem Produkt der Impedanz Z_L = R + jX und dem Strom I errechnet. ΔU kann auf die beiden Ersatzschaltbildelemente aufgeteilt (U_R und U_X) oder in seinen Real- und Imaginärteil zerlegt werden. Der Realteil von ΔU wird als Längsspannungsfall ΔU_L und der Imaginärteil von ΔU als Querspannungsfall ΔU_Q bezeichnet. Für die Netzplanung ist streng genommen der Spannungsunterschied der Effektivwerte am Anfang und am Ende der Leitung ΔU_AE und nicht ΔU oder ΔU_L entscheidend. Aus Abbildung 1 wird ersichtlich, dass auf der einen Seite im Vergleich zum eigentlichen auslegungsrelevanten Spannungsfall ΔU_AE der Spannungsfall über der Netz- bzw. Transformatorimpedanz |ΔU | = |Z * I| stets größer ist, auf der anderen Seite sein Realteil, der betragsmäßige Längsspannungsfall ΔU_L geringfügig kleiner ist. Bei kleinen Verdrehwinkeln σ zwischen U_A und U_E , was für die Mittel- und Niederspannungsebene zutrifft, kann aber in guter Näherung der Längsspannungsfall ΔU_L auf Leitungen mit ΔU_AE gleich gesetzt werden. Bei genauerer Betrachtung ergeben sich in der Praxis Unterschiede zwischen ΔU_L und ΔU_AE von 0,1 bis zu 2,5 %, bezogen auf ΔU_AE. Bei Transformatoren ergeben sich aufgrund der stark induktiv geprägten Impedanz deutlich größere Unterschiede.
Nachfolgend werden die mathematischen Zusammenhänge der jeweiligen Spannungsfallkomponenten unter Annahme eines Stroms in Bezugspfeilrichtung (Richtung U_E) und unter Verwendung eines induktiven Blindstroms dargestellt. Die aufgezeigten Formeln haben allerdings allgemeine Gültigkeit. Kapazitiver Blindstrom oder Stromfluss entgegen des Bezugspfeils aus Abbildung 1 müssen lediglich mit negativen Vorzeichen eingesetzt werden.
Vereinfachend kann also der auslegungsrelevante Spannungsfall in Form des Längsspannungsfalls berechnet werden, wenn man den Verschiebungsfaktor in obiger Gleichung zur Berechnung des Spannungsfalls ΔU_L, der als Phasengröße mit ΔU_LY gekennzeichnet wird, ausklammert:
und einen auf die Leitungslänge normierten Längswiderstand einführt:
erhält man:
Darin ist P_E die Drehstrom-Wirkleistung und U_EΔ die verkettete Spannung am Leitungsende. Die übrigen Größen können der Abbildung 1 entnommen werden. Die Leiter-Leiter-Größe errechnet sich aus der Phasengröße über die Multiplikation mit dem Verkettungsfaktor √3:
Üblicherweise wird die Nennspannung für die in der Regel unbekannte Spannung U_EΔ eingesetzt und damit begründet, dass beide Spannungen maximal um voneinander abweichen. Normiert auf die Nennspannung ergibt sich der relative Spannungsfall:
Der komplexe Spannungsfall im Verteilungsnetz
Auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse kann der Spannungsfall entlang der in Abbildung 2 dargestellten Übertragungsstrecke als Addition einzelner Spannungsfälle längs der Betriebsmittel aufgefasst werden.
Um die Spannungsfälle im MS- und NS-Netz einheitlich in einem Diagramm darstellen zu können, werden diese im Folgenden auf die jeweilige Nennspannung normiert:
Der Ortsnetztransformator wird dabei von der Oberspannungsseite her betrachtet und die Impedanz entsprechend der MS zugeordnet.
Ausgehend von der Spannung u_UW am UW, die in der Regel maximal um die halbe Regelbandbreite (Die RBB ergibt sich aus den eingestellten Parametern für die obere und untere Schaltschwelle B_O und B_U, die üblicherweise symmetrisch um den Sollwert gelegt werden) vom Sollwert (SW) abweichen kann, ergibt sich im Starklastfall eine minimale Spannung aus der geometrischen Additon der Spannungsfälle auf der MS-Leitung (Δu_MS), über dem Ortsnetztransformator (Δu_ONT) und entlang der Niederspannungsleitung (Δu_NS). Das resultierende verkettete Spannungszeigerdiagramm ist in Abbildung 3 im rechten Bildteil zu sehen. Zudem ist eine Projektion der wirksamen Spannungsunterschiede auf das zulässige Spannungsband (U_n ±10%) dargestellt (Schnittpunkt der Kreise mit horizontaler Linie). Des Weiteren ist die Regelbandbreite des Umspannwerk-Transformators eingezeichnet, innerhalb deren die Spannung der MS-Sammelschiene schwanken kann. Für den Starklastfall ohne Einspeisung ist deshalb von einer an der unteren Schwelle der Regelbandbreite liegenden MS-Sammelschienenspannung u_UW auszugehen. Dabei muss trotz maximal möglicher Spannungsfälle sichergestellt sein, dass die untere Spannungsbandgrenze von 0,90 p.u. nicht unterschritten wird. Auf der anderen Seite (linker Bereich in Abbildung 3) darf die Spannung an keinem Punkt im Verteilungsnetz über 1,10 p.u. liegen. Maßgebend ist hierfür der Schwachlastfall mit maximaler Einspeisung aus dezentralen Erzeugungsanlagen mit einer anzunehmenden MS-Sammelschienenspannung an der oberen Schwelle der Regelbandbreite.
Bei Betrachtung von Abbildung 5 wird deutlich, dass die geometrische Lage der einzelnen Spannungsfälle entscheidenden Einfluss auf den letztendlich relevanten Spannungsunterschied u_AE hat. Dieser Effekt ist vor allem bei Ortsnetztransformatoren (Δu_ONT) ersichtlich. Während der komplexe Spannungsfall (Δu_ONT) entsprechend seiner relativen Kurzschlussspannung beträchtlich sein kann, z. B. 4% bei einer Belastung mit Nennstrom und einem u_k = 4%, wird mit ca. 0,5% ein wesentlich kleinerer Teil des Spannungsbandes effektiv belegt.
Die in der komplexen Ebene beschriebenen Zusammenhänge können mathematisch ausgedrückt werden:
Die Kleinbuchstaben u kennzeichnen die auf die jeweilige Nennspannung normierten Spannungen bzw. Spannungsfälle. Die Buchstaben a und m nehmen ganzzahlige Werte an und symbolisieren die automatische Spannungsregelung über Stufenschalter bzw. die manuelle Einstellung über Umsteller. Der Index 4 bzw. 6 repräsentiert die Netzebene, in der sich die Spannungsregel-/einstelleinrichtung befindet (siehe Tabelle 1).
Mit ±m_6 * u_st,ONT kann also eine Abweichung vom Nennübersetzungsverhältnis des Ortsnetztransformators berücksichtigt werden. Dies lässt sich in diskreten Stufen mit einer wirksamen Stufenspannung u_st,ONT im spannungslosen Zustand verändern. Dabei ist zu beachten, dass eine Verstellung des Übersetzungsverhältnisses das Niveau der Ausgangsspannung sowohl für den Last- als auch für den Einspeisefall gleichermaßen entsprechend erhöht bzw. erniedrigt. Der Term ±m_4 * u_st,ONT steht für die automatische Ausregelung des mit Nennübersetzung auf die Sekundärseite des UW-Transformators übertragene Hochspannung u_UW. In Abbildung 4 ist das normierte Spannungszeigerdiagramm für den Lastfall dargestellt. Mit den blauen Pfeilen sind die UW-Regelung und die Einstellbarkeit des ONT-Übersetzungsverhältnisses angedeutet.
Ersetzt man die jeweiligen Spannungsfälle durch deren Produkt aus Strom (weiterhin induktiver Blindstrom bzw. Blindleistung angenommen) und auf die Leitungslänge normierte Impedanz und drückt man die Wirk- und Blindanteile der Ströme durch die transportierte Leistung P und Q aus, kann folgender Ausdruck gewonnen werden:
Aus dieser Gleichung können alle grundsätzlichen Einflussmaßnahmen auf die Spannungshaltung abgeleitet werden. Diese sind:
- Impedanzreduktion
- Wirkleistungsmanipulation
- Blindleistungsmanipulation
- Direkte Spannungsquellen
Einflussmaßnahmen auf die Spannungshaltung
Impedanzreduktion
Die Impedanzreduktion zielt auf eine Verringerung der wirksamen Netz bzw. Transformatorimpedanz bestehend aus und . Mögliche Maßnahmen sind der Einbau paralleler Leitungen, Verwendung von Leitungen größeren Querschnitts, die Vermaschung von Netzteilen, Verringerung der effektiven Impedanzbeläge und , zusätzliche Ortsnetzstationen bzw. Umspannwerke (Verkürzung der Leitungslängen) oder die Verwendung einer größeren Transformatorbraureihe ().
Wirkleistungsreduktion
Die Wirkleistungsreduktion beeinflusst in gleicher Weise wie die Impedanzreduktion den Spannungsfall längs der Netzbetriebsmittel. Die Absenkung der zu übertragenden Wirkleistung () kann über Speicher, Spitzenkappung bei dezentralen Erzeugungsanlagen sowie Last- und Einspeisemanagement erreicht werden.
Blindleistungsmanipulation
Durch Blindleistungsmanipulation kommt es neben der Beeinflussung der Länge des komplexen Spannungsfalls auch zu einer Drehung der Phasenlage. Induktiver Blindleistungsbezug wirkt spannungssenkend, kapazitiver spannungsanhebend. Eine Manipulation der Blindleistungsflüsse () ist über Kompensationsanlagen (z. B. Kapazitäten, Drosseln, Leistungselektronik) oder Erzeugungsanlagen (z. B. Spannungsblindleistungsregelung durch PV-Wechselrichter, Synchrongeneratoren) aber auch Lasten (z. B. Synchronmaschinen im Phasenschieberbetrieb) und umrichterbasierten Speichern möglich.
Einsatz direkter Spannungsquellen
Unter diesem Begriff werden Gerätschaften (i. d. R. auf dem Transformatorprinzip beruhend) zusammengefasst, die durch eine „Zusatzspannung“ das Spannungsniveau beeinflussen. Im Verteilungsnetz findet man typischerweise Längsregler, d. h. es wird nur der Betrag der Spannung und nicht die Phasenlage verändert – der Einfluss wirkt längs des komplexen Spannungszeigers eines Netzknotens (z. B. ). Im Übertragungsnetz werden auch Quer- und Schrägregler verwendet um durch die zusätzliche Manipulation der Phasenlage die Leistungsflüsse im Stromnetz besser steuern zu können. Standardmäßig sind in jedem Verteilungsnetz zwei solcher direkter Spannungsquellen vorzufinden – der Umspannwerktransformator samt Stufenschalter und der Ortsnetztransformator mit integriertem Umsteller. So lässt sich die Aufnahmefähigkeit des Netzes für dezentrale Erzeugungsleistung erhöhen, indem man in die UW-Regelung eine dynamische Sollwertanpassung implementiert oder den ONT-Umsteller in den kritischen Netzbereichen saisonal den Gegebenheiten anpasst. Zusätzlich kann das Spannungsniveau über heute so bezeichnete Einzelstrangregler in der MS- oder NS-Leitung beeinflusst werden. Hierbei wird immer nur der nachfolgende Netzabschnitt beeinflusst. Eine weitere Lösungsmaßnahme ist der regelbare Ortsnetztransformator. Mit ihm kann ein komplettes Ortsnetz, bei höherer und geeigneter Installationsdichte auch Teile des MS-Netzes „entspannt“ werden.
Nachfolgende Tabelle fasst die vier Kategorien mit den jeweiligen Lösungsmaßnahmen zur Behebung von Spannungsbandproblemen zusammen.